Den Pelikanpreis der tschechischen Zweimonatsschrift für Kultur und Dialog Listy erhielt für das Jahr 2020 die slowakische Soziologin Zuzana Kusá. Der Grund, warum das Redaktionskomitee den Preis gerade an Z. Kusá verlieh, ist, dass „sie die konsistente, wissenschaftlich errudierte und öffentlich hörbare Stimme gegen Armut und soziale Ausgrenzung darstellt… Unerbittlich setzt sie die Notwendigkeit durch, Menschen am Rande der Gesellschaft sowohl gegenüber der meisten öffentlichen Meinung als auch in der Politik zu unterstützen“.
Es war Z. Kusá, die zusammen mit dem ehemaligen Premierminister der Tschechischen Republik und EU-Kommissar Vladimír Špidla, der Redakteurin des Portals A2larm.cz Apolena Rychlíková und dem Soziologen Daniel Gerbery, am Dienstag dem 23. März, die Auswirkungen der COVID-Pandemie auf unsere Wahrnehmung von Armut, sozialer Ausgrenzung und Solidarität in der Gesellschaft diskutierte. Die Diskussion wurde von Masaryks Demokratischen Akademie (MdA), Zweimonatsschrift Listy und der FES-Vertretung in der Slowakei organisiert und von Patrik Eichler, dem stellvertretenden Direktor der MdA, moderiert.
Wie Z. Kusá in ihrer Einführungsrede und Reaktion auf die Auszeichnung betonte, müssen sozialer Zusammenhalt und auf der Solidarität aufgebaute Gesellschaft als Voraussetzung für die Instandhaltung des demokratischen Charakters der Gesellschaft wahrgenommen werden. „Demokratie kann kaum kohärent sein, wenn ein Teil der Menschen von der Möglichkeit ausgeschlossen ist, ihre Freiheiten zu erfüllen, und einige Menschen von der Gesellschaft als grundlegend anders wahrgenommen werden, die nicht zu uns gehören und keine Solidarität und Sorge um ihre Lebensbedingungen verdienen“. In Bezug auf die Entwicklung der Armutsquote und der sozialen Ausgrenzung in der Slowakei, zeugt, außer vielen andern Angaben über dieses Problem, laut Z. Kusá die Tatsache, dass der tatsächliche Lebensstandard, den die Menschen in der Slowakei im Jahr 1989 hatten, wir erst im Jahr 2006 erreichten. Über die Auswirkungen der Pandemie auf die tschechische Gesellschaft, bzw. über die Ausbreitung der Armut darin, zeugt laut Journalistin Apolena Rychlíková der Anstieg der Zahl der von Nahrungsmittelbanken angewiesenen Menschen, an der derzeit 160.000 Menschen teilnehmen, um 60%, und die Prognose besagt einen Anstieg von 30-40% bis zum Ende der Pandemie sowie eine Änderung der Zusammensetzung von Personen, die aufgrund von Einkommensverlusten auf die Nahrungsmittelbanken angewiesen sind. In seiner Redemachte D. Gerbery unter anderem auf das historisch konstante Phänomen des politischen Diskurses über die Armut aufmerksam, dass die einzige Sozialpolitik, auf der politische Repräsentationen im gesamten Parteispektrum sich einig sind, aus einem restriktiven, misstrauischen Ansatz zur sozialen Unterstützung und Inklusion der Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen, beruht.
Wie die Diskutierenden übereinstimmten, können die Auswirkungen der Pandemie auf die soziale Situation vieler Menschen einen doppelten Einfluss auf die Wahrnehmung von Armut, Solidarität oder die Rolle des Sozialstaats als solchen haben. Einerseits könnte die Tatsache, dass viele Menschen der Mittelschicht in Pandemiesituationen geraten sind, in denen sie auf staatliche Beihilfen angewiesen sind, zu einem Bewusstsein für die Notwendigkeit eines starken, aktiven Sozialstaats geführt haben, der systematisch für Solidarität und ein Rettungsnetz im Falle eines Notfalls sorgt. Andererseits könnte die negative Erfahrung mit einer dysfunktionalen pandemischen Wirtschaftshilfe des Staates gerade bei diesen Menschen zu der Schlussfolgerung führen, dass der Staat mir nicht im Notfall helfen wird, wenn ich das ganze Leben arbeite, Steuern zahle, noch dazu mit – einem unbegründeten, aber subjektiv gültigem Gefühl, dass der Staat oft denjenigen hilft, die es nicht einmal verdienen – so ein Gefühl führt zur Vernachlässigung und dazu, jede soziale Funktion des Staates als solchen in Frage zu stellen. In diesem Zusammenhang wies V. Špidla auch auf das soziale Phänomen hin, das in nicht universellen sozialen Systemen und in Zeiten sozialer Krisen offensichtlich ist: Menschen haben Angst vor Armut, hassen aber die Armen, weil sie Angst haben, dass selbst das Wenig, das Sie haben, ärmere Menschen von ihnen nehmen. Auf diese Weise sind es die sozialen Umwälzungen, die die soziale Feindseligkeit verschärfen und die Solidarität zwischen den unteren Mittelschichten und den Menschen auf den untersten Ebenen der sozialen Leiter der Gesellschaft schwächen. V. Špidla betonte auch, dass erst die Pandemie bewies, wie groß der Teil der Gesellschaft ist, der unter prekären, unsicheren Sozial- oder Arbeitsbedingungen lebt und arbeitet.
Die fast zweistündige Diskussion brachte eine Reihe interessanter Beobachtungen und Erkenntnisse für die Diskussion über eine solche Einstellung der sozialen Systeme unserer Gesellschaften, die in der Lage sein werden, die durch zukünftige Krisen verursachten sozialen Umwälzungen ausreichend zu absorbieren.
Die vollständige Diskussion finden Sie hier: www.facebook.com/FESBratislava/videos/2794038620926558
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